19

 

 

 

Nichts war vorbei. Sein Entschluss stand deshalb fest. Er würde London verlassen. Wohin er gehen würde, wusste er noch nicht. Vielleicht nach Italien? Er hatte eine halbe Million Pfund. Er konnte hingehen, wohin er wollte.

Willem fiel wieder jener merkwürdige Moment vor zwei Jahren ein, als er gerade seinen Job in Paris verloren hatte, und er aus der Stimmung heraus, grenzenlos frei zu sein, von einer Sekunde auf die andere entschieden hatte, sein Glück in London zu suchen. Jetzt spürte Willem nichts von jener Euphorie. Er war nicht frei. Er musste gehen, obwohl er lieber bleiben würde, auch wenn er sein Glück in London noch nicht gefunden hatte.

Willem wollte in jedem Fall vermeiden, dass seine Abreise wie eine Flucht aussehen könnte. Er nahm sich vor, alle Formalitäten, die bei einem Auszug notwendig sind, ordnungsgemäß zu erledigen. Seine Vorbereitungen begannen damit, die viereinhalb mal dreieinhalb Quadratmeter, die in den letzten zwei Jahren sein Zuhause waren, akribisch aufzuräumen. Er trennte sich von allem, was er nicht mehr brauchte. Und das war fast alles, was er besaß. Er stopfte die überflüssigen Dinge in schwarze Mülltüten, zusammen mit Pias abgelegten Sachen sowie Nikitas blutverschmierten Kleidungsstücken. Er würde die Tüten an irgendeinem Supermarkt in einem dieser Container verschwinden lassen, in denen Kleidung für die Dritte Welt gesammelt wurde.

Das, was er behielt, passte in einen Koffer und eine Reisetasche. Hinzu kam die schwarze Sporttasche der Hewitts mit seinem Anteil. Nur mit dem Revolver wusste Willem nicht, wohin. Wegwerfen wollte er ihn nicht. Vielleicht könnte er doch das Ding eines Tages gebrauchen, dachte er. Er ließ ihn auf dem blank geputzten Tisch liegen.

Noch langsamer als üblich ging Willem die Old Brompton Road Richtung South Kensington herunter. Jedes einzelne Haus in der Straße versuchte er sich einzuprägen wie die Zeilen eines Gedichts, das einem gefällt und das man auswendig lernt, um es in einer Stunde der Muße halblaut zu wiederholen.

Das Maklerbüro war am unteren Ende der Old Brompton Road. Die Angestellte, der Willem seinen Auszug ankündigte, reagierte äußerst unfreundlich. Sie verlangte, dass Willem die Miete bis zum Quartalsende, also für weitere zehn Wochen, zahlte, gleich ob er die Wohnung weiter nutzte oder nicht. Auch verweigerte sie ihm die Herausgabe der Kaution. Sie würde zur Deckung der Kosten für die notwendige Reinigung herangezogen, lautete ihre Begründung, ohne das Appartement gesehen zu haben. Zusätzlich verlangte sie zwei Wochenmieten Bearbeitungsgebühr.

Willem wäre es ein Leichtes gewesen, ihre vertragswidrigen Forderungen zurückzuweisen. Aber ihm fehlte die Kraft zu einer Auseinandersetzung. Er akzeptierte deshalb zur großen Überraschung der Angestellten alles, was sie verlangte. Willem fragte nur freundlich, ob es recht sei, wenn er den noch offen stehenden Betrag sofort und bar begleiche. Die Angestellte monierte zwar, dass sie dann eigens zur Bank gehen müsse, um das Geld einzuzahlen, nahm aber die sauberen Fünfzig-Pfund-Noten gierig entgegen – gemeinsam mit Willems Dank und seinem Versprechen, den Schlüssel innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden in dem Maklerbüro abzugeben.

»Ich kann mich darauf verlassen?«, fragte sie Willem mit ihrer tiefen maskulinen Stimme.

» Selbstverständlich.«

»Na gut, dann will ich Ihnen mal glauben.«

Anschließend kaufte sich Willem eine Auswahl von Zeitungen und ging noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, ins »Raison d’être«, gleich um die Ecke. Nur einer der kleinen Aluminium-Tische war unbesetzt. An den anderen hatten hübsche französische Teenager große Runden gebildet und schnatterten wild durcheinander. Es störte ihn nicht, dass er wegen des Lärms nicht zum Lesen kam. Er blätterte die Zeitungen eilig durch, ohne Nikitas Namen zu entdecken. Auch über Hewitt fand er nichts, zu seiner Erleichterung. Willem seufzte. Doch nichts war vorbei. Er musste London verlassen.

Die Gruppe am Nachbartisch regte sich über die angebliche Ungerechtigkeit eines Lehrers auf, der seine Schüler, wie ein Junge unter der lauten Zustimmung seiner Freunde konstatierte, wie Sklaven behandelte. Die Jungen und Mädchen fassten den Beschluss, das erlittene Unrecht dem Lehrer heimzuzahlen. Doch wussten sie nicht recht, auf welche Weise. Die einen wollten dem Lehrer mit einem Streich eins auswischen, die anderen plädierten für organisierten Protest.

Willem spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, den Schülern seinen Revolver anzubieten. Ihn amüsierte die Vorstellung, die Schüler könnten zornig losmarschieren und ihren Lehrer mir nichts, dir nichts über den Haufen schießen. Im Grunde war es ganz einfach, jemanden zu töten, fast so einfach, wie einen Regenschirm zu erschwindeln. Man musste sich nur trauen.

Willem verließ das Café und ging zur Bank. Er erstattete die Honorare zurück, deren Rückzahlung die Zeitung in Gent bereits angemahnt hatte, beglich noch offen stehende Rechnungen und zahlte zudem auf sein eigenes Konto fünftausend Pfund ein. Das gab ihm ein Gefühl der Sicherheit.

Als Willem die Old Brompton Road zurückging, kam ihm die Idee, sich ein neues Auto zuzulegen, um sich den Abschied von London zu versüßen. Willem dachte an ein Cabriolet, mit dem es ein Vergnügen wäre, der Sonne entgegen zu fahren.

Am Nachmittag fuhr Willem in seinem altersschwachen gelben Mercedes nach Parsons Green, auf dem Beifahrersitz eine Plastiktüte mit zehntausend Pfund. Mehr wollte er für sein neues Auto nicht ausgeben. Da er den Kauf bar abwickeln wollte, befürchtete er auch, dass er sich bei einem höheren Betrag verdächtig machen könnte. Willem kannte einen Händler in Parsons Green, nicht weit vom »White Horse«, der auf Oldtimer spezialisiert war. Denn ein Neuwagen kam für Willem nicht in Frage. Er fand neue Autos gewöhnlich.

Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, etwa alle drei Monate bei dem Händler vorbei zu schauen, durch die Reihen zwischen den alten Ferraris, Bentleys und Porsches zu streifen, einen prüfenden Blick auf Lack, Motor und Interieur zu werfen, sich in diesem oder jenem Fahrzeug hinters Steuer zu setzen und dann für ein paar Sekunden, von einer imaginären Sonne geblendet, davon zu träumen, über kurvige Serpentinen zu rasen. Jedes Mal tauschte er sich anschließend mit dem Händler über die Vorzüge der einzelnen Fabrikate aus, ohne wirklich technisch versiert zu sein. Bei seinem letzten Besuch, erinnerte sich Willem, war der Händler recht kurz angebunden gewesen. Er dachte wohl, dass Willem nie sein Kunde würde. Um so mehr freute sich Willem auf den bevorstehenden Kauf, war er doch mit einer zusätzlichen Genugtuung verbunden.

Rund vierzig Fahrzeuge standen kreuz und quer in der Garage, Limousinen neben Sportwagen, Cabriolets neben historischen Rennwagen, amerikanische neben italienischen Fahrzeugen. Ein System konnte Willem nicht erkennen. Das Limit von zehntausend Pfund, das er sich gesetzt hatte, schränkte die Auswahl von vornherein ein. Ein weißer Alfa Romeo Giulia 101 Spider aus den sechziger Jahren weckte sofort sein Interesse. Er glaubte einen Film gesehen zu haben, in dem ein Berufskiller in dem gleichen Wagen die Riviera entlang flüchtete, die Polizei dicht auf seinen Fersen. Auch deshalb schien Willem seine Wahl besonders gelungen.

Er klopfte an die Glasscheibe und zeigte auf den Alfa Romeo. Der Händler suchte die Schlüssel hervor, allerdings in Zeitlupentempo, und folgte Willem durch die Halle. Erst beim dritten Mal gelang es dem Händler, den Motor anzuwerfen. Der Wagen habe sehr lange gestanden, sagte er. Willem gab sich mit der Erklärung zufrieden. Dann setzte sich Willem ans Lenkrad, ließ ein paar Mal den Motor laut aufheulen und fuhr einmal vor, einmal zurück. Das war die ganze Testfahrt.

»Wenn Sie mir meinen alten Mercedes abnehmen, kaufe ich Ihnen den Alfa ab. Einverstanden?«

Der Händler sah sich ausgiebig den Mercedes an, der vor dem Tor stand, trat gegen die Reifen, schaute unter die Motorhaube, unter den Wagen, glaubte ein verdächtiges Geräusch im Getriebe zu hören und tat überhaupt sehr bedenklich.

»Ich kann Ihnen nur zweihundert Pfund bei dem Alfa nachlassen. Mehr ist beim besten Willen nicht drin.«

»Abgemacht.« Willem streckte seine Hand aus, und der Händler schlug ein. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich bar bezahle? Ich habe nämlich kein Konto in England«, log Willem.

Der Händler hatte nichts einzuwenden. Willem blätterte in Fünfzig-Pfund-Noten sechstausend und achthundert Pfund auf den Tisch. Er ließ sich noch die Mechanik des Faltdachs vorführen, gab kräftig Gas und brauste los, wobei das röhrende Motorengeräusch des Alfas wie Musik in seinen Ohren klang.

Wäre Sonntag gewesen, wäre er sicherlich mit dem Alfa vor dem »White Horse« vorgefahren, um den jungen Börsianern zu imponieren, die er eigentlich verachtete. Stattdessen fuhr Willem durch Parsons Green und Fulham Richtung Sloane Square. Er hoffte, irgendein bekanntes Gesicht zu entdecken, das sich mit Bewunderung nach ihm umdrehte. Aber er sah niemanden, den er kannte. Wer sollte das auch sein?

Willem drehte eine Runde um den Sloane Square und fuhr auf Knightbridge zu. Bei »Harvey Nichols« bog er nach links ab und folgte der Route entlang dem Hyde Park, bis er die Kensington High Street erreichte. Dann schwenkte er rechts ein und fand sich in Phillimore Gardens wieder. Langsam steuerte Willem seinen weißen Alfa am Haus Nummer 46 vorbei. Das Haus sah verwaist aus. Weder der BMW noch der Range Rover standen dort. Was wollte er eigentlich hier? War er noch ganz bei Trost? Wut und Scham trieben Willem das Blut in den Kopf. Mit quietschenden Reifen jagte er davon.

 

 

Gegen neun Uhr abends verließ Willem das Haus, warf einen Blick auf den weißen Alfa, der mit geschlossenem Dach vor der Tür stand. Er hatte sich von dem Kauf irgendeine Veränderung erwartet, die aber nicht eingetreten war. Willem war auf dem Weg ins »Finch«, seinem Stammlokal in der Fulham Road, das er das letzte Mal gemeinsam mit Nikita betreten hatte. Er fand es passend, dort seinen vorerst letzten Abend in London zu verbringen.

Das Pub war gut gefüllt. Alle Tische waren besetzt. Willem stellte sich an die Theke und wartete geduldig, bis ihn die Bedienung wahrnahm. Willem bestellte ein Pint Lager und einen Whisky. Den Whisky trank er sofort aus.

»Leisten Sie mir auf einen Drink Gesellschaft?«, fragte ein Mann, der neben ihm stand.

Er schien schon länger dort zu stehen, ohne dass Willem ihn wahrgenommen hatte.

»Warum nicht? Gerne«, antwortete Willem.

»Vielleicht noch einen Whisky?«

Der Mann schaute auf Willems leeres Glas.

»Ja, bitte.«

Während der Mann die Bestellung aufgab, sah Willem ihn sich genauer an. Er war etwa so groß wie Willem, aber kräftiger und vielleicht fünf bis zehn Jahre älter. Er hatte ein volles, frisches und freundliches Gesicht. Nur die Augen waren leicht gerötet. Seine Kleidung war unauffällig, weder geschmackvoll noch geschmacklos. Alles an ihm wirkte auf Willem völlig durchschnittlich. Er konnte partout nichts Besonderes oder gar Verdächtiges an ihm entdecken.

Der Mann trank selbst ein weiteres Pint Bitter. Sie stießen an.

»Cheers!«, rief Willem fröhlich.

»Cheers!«, sagte auch der Unbekannte und nahm einen kräftigen Schluck. »Ach, es wäre doch eine Schande, hier allein rumzustehen. Zu zweit kann man sich doch noch mal so gut langweilen.«

Willem lachte höflich.

»Was machen Sie hier in der Gegend?«

Wollte er Willem ausfragen?

»Nichts, nichts Besonderes. Ich wohne hier ein paar Straßen weiter«, sagte Willem.

»So? Schöne Gegend!«

»Ja, aber leider auch ziemlich teuer.«

Der Unbekannte reagierte nicht. Er schien in das übliche Wehklagen über die hohen Preise in London nicht einstimmen zu wollen.

»Und was hat Sie hierher geführt?«, fragte Willem unverbindlich.

Dem Mann schossen Tränen in die Augen. Willem war peinlich berührt.

»Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Ich habe mich von meiner Mutter verabschiedet. Sie starb gerade.«

»Mein herzliches Beileid.«

Willem war nichts anderes als diese übliche Redewendung eingefallen. Er ärgerte sich darüber. Doch der Unbekannte störte sich nicht daran. Er dankte Willem vielmals und entschuldigte sich für seine Tränen. Er zog ein großes Taschentuch hervor und schnäuzte sich die Nase.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte Willem und dachte, dass sich das schon besser anhörte, verständnisvoller, menschlicher.

»Cheers!«, sagte der Mann. Sie stießen nochmals an. Willems Glas war wieder leer. »Kommen Sie, trinken Sie noch einen. Noch einen Whisky, ja?«

Willem wäre jetzt lieber gegangen. Er fühlte sich unbehaglich. Aber bevor er etwas sagen konnte, hatte der Unbekannte bereits bestellt.

»Aber das ist meine Runde. Ich bestehe darauf.«

Willem wollte den Eindruck vermeiden, als würde er wegen der bezahlten Drinks bleiben. Der Mann schien ihn aber überhört zu haben und zahlte erneut.

»Es ist ein merkwürdiges Gefühl für mich, die Mutter verloren zu haben«, setzte der Unbekannte wieder an. »Ich weiß, das ist es wohl für jeden. Aber ich habe mit meiner Mutter mein ganzes Leben verbracht, jeden Tag sie und ich, das war alles. Sonst gab es niemanden. Sie war mein ganzes bisheriges Leben.«

Er sprach ohne Selbstmitleid, zumindest war es nicht herauszuhören. Es klang eher wie eine Aufzählung nüchterner Feststellungen.

»Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Ich kann mir ein Leben ohne meine Mutter gar nicht vorstellen.«

Willems Mutter war noch am Leben, nahm er jedenfalls an. Er hatte keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. Vielleicht war sie auch schon tot.

»Aber keine Bange«, sagte der Mann, »ich bringe mich nicht um. Das kommt für mich nicht in Frage.« Der Mann schien Willems Gedanken lesen zu können. »Nein, ich bin auch kein Muttersöhnchen. Es hat immer in meinem Leben Frauen gegeben, gibt es auch jetzt. Aber immer kam meine Mutter an erster Stelle. Sie war krank, schon lange. Sie brauchte wirklich meine Hilfe.«

Er nahm einen Schluck von seinem Bitter und sagte dann: »Wissen Sie, was mich jetzt am meisten ärgert?«

Willem konnte ihm keine Antwort geben.

»Bei der Beerdigung werden alle, die Verwandten, Freunde und Nachbarn, sagen, dass der Tod meiner Mutter für mich eine Erlösung sei. Das ist kompletter Unsinn. Ich habe sie nie als Belastung empfunden, auch nicht in den letzten Monaten, als sie gar nichts mehr alleine machen konnte.« Der Mann hatte sich richtig in Rage geredet und dabei seine Trauer fast verdrängt. »Wissen Sie, meine Mutter war ein wirklicher kluger Mensch. Sie hatte immer etwas zu sagen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Der Mann trank sein Bier aus. »Trinken Sie noch einen mit?«, fragte er nun beinahe fröhlich.

Willem wusste aber, dass er keinen weiteren Whisky vertrug, beim besten Willen nicht.

»Bitte, entschuldigen Sie! Aber ich bin müde. Und mir steht morgen eine lange Reise bevor. Vielleicht ein andermal.«

»Ist schon gut. Ich danke Ihnen jedenfalls, dass Sie mir zugehört haben. Das macht nicht jeder. Sie sind ein prima Kerl. Die Leute in London sind so kalt geworden. Übrigens: Ich heiße John.«

»Freut mich, John. Ich heiße Willem.«

»Ich werde noch etwas bleiben.«

Willem nickte.

»Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.«

Willem dachte, dass dieser John eigentlich ein glücklicher Mensch sein müsste, weil er auf eine glückliche Zeit zurückschauen konnte. Aber es hätte keinen Zweck, ihn um sein Glück zu beneiden. Er wüsste mit dem Glück des Fremden nichts anzufangen.